Thomas Huonker
"Fürsorge" in Zürich 1890 bis 1970. Index
Anstaltseinweisungen,
Kindswegnahmen,
Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen
Fürsorge,
Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in
Zürich zwischen 1890 und 1970
Präsentation von
Michael Palomino
(2008)
aus: Edition Sozialpolitik Nr. 7;
Sozialdepartement der Stadt Zürich.
Sozialberichterstattung '02; Bericht von Thomas
Huonker, verfasst im Auftrag des
Sozialdepartements der Stadt Zürich.
Inhalt
Vorwort
Es geht auch uns an. Vorwort von Stadträtin Monika
Stocker S.4
Vorbemerkung des Autors S.7
1. "Taublöcher",
"Schellenwerk", "Verlaidungswesen". Zürcher Fürsorge
vom 15. bis zum 19. Jahrhundert S.9
2. "Das
Zukunftsbild einer wie aus Armut und Siechtum, so
auch aus geistigem und sittlichem Elend
emporgehobenen Menschheit".
Soziale "Sanierung" im Zeichen von
Professionalisierung, Wissenschaft und Bürokratie S.14
3.
"Die Schweiz hat gerade in dieser Bewegung eine
bahnbrechende Rolle gespielt".
"Rassenhygiene" und "Eugenik" in der Schweiz S.58
4. "Ist
die
Krankheit diagnostiziert oder vermutet, so ist vom
Heiraten unter allen Umständen und mit möglichster
Energie abzuraten".
Psychiatrische Diagnosen, Eheverbote, Sterilisationen
und Kastrationen in Zürich S.101
5. "In buntem
Durcheinander haben die Insulinkur, die
Elektroschocks, die Schlafkur, die Fieberkur, die
Dämmerkur mit diesem oder jenem Mittel geholfen -
oder nicht geholfen."
Kurze Darstellung experimenteller psychiatrischer
Zwangstherapien unter besonderer Berücksichtigung der
Fallgeschichten einiger Zürcher Mündel. S.136
6. "Zur Zeit der
Kastration war der homosexuelle Trieb
aussergewöhnlich lebhaft."
Sterilisationen, Kastrationen, Transplantationen und
andere experimentelle medizinische Therapien an
Geschlechtsorganen "Abnormer" S.153
7. "Genügt das
Urteil eines Psychiaters, um einen Menschen Jahre
lang, wenn nicht lebenslänglich, hinter den Mauern
eines Irrenhauses lebend zu begraben?"
Psychiatrie, Fürsorge und Zwangsmassnahmen in der
öffentlichen Debatte - Kritik, Skandale und Wandel
S.164
8. Literatur
9. Endnoten
Es geht auch uns an!
Vorwort von Stadträtin Monika Stocker,
Vorsteherin des Sozialdepartements der Stadt
Zürich
Willi Wottrengs 1999 erschienenes Buch "Hirnriss" hat
uns aufgerüttelt und betroffen gemacht. Nun möchten
wir mit diesem Bericht die Erkenntnisse über das
Ausmass, den Hintergrund und die Beschaffenheit von
Zwangsmassnahmen im sozialen und psychiatrischen
Bereich in die öffentliche Diskussion tragen.
Es scheint mir unerlässlich, dass unsere Generation,
die jetzt Verantwortung trägt, um den Charakter der
Zwangsmassnahmen und um ihre Wirkungen in der
Vergangenheit weiss. Wer die Augen vor der Geschichte
verschliessen will, läuft Gefahr, die Sensibilität für
die Gegenwart zu verlieren und die rechtzeitige
Weichenstellung für die Zukunft zu verpassen.
So verstehe ich den vorliegenden Bericht von Dr.
Thomas Huonker als kritische Anfrage an unsere
Generation und unsere fachliche Kompetenz genauso wie
an die Ethik der Sozialpolitik zu jeder Zeit und in
jedem Umfeld.
In verschiedenen Kantonen sind schon seit einiger Zeit
Forschungsgesuche zu Zwangsmassnahmen im sozialen und
psychiatrischen Bereich hängig, die den Zeitraum
zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den
1970er-Jahren betreffen.
Obwohl auch heute noch vieles im Dunkeln liegt über
die Hintergründe und das tatsächliche Ausmass der
Anwendung von ungerechtfertigten Zwangsmassnahmen,
stösst das Thema auf grosses Interesse. Willi
Wottrengs Buch löste darüber eine erste breite
öffentliche Debatte aus.
Medien und Vorstösse in verschiedenen Parlamenten
forderten eine Aufarbeitung der sozialhistorischen
Umstände dieser Zwangsmassnahmen. Damit sollten das
Ausmass und die Hintergründe dieser spezifischen Form
von staatlicher Intervention besser ausgeleuchtet
werden können.
Im Gemeinderat der Stadt Zürich verlangte Katharina
Prelicz-Huber in einer Interpellation am 7. Juli 1999,
"diesen dunklen Teil der städtischen Sozialpolitik
aufzuarbeiten". Da ein ähnlicher Antrag bereits im
Kantonsrat vorlag, wurde mit dem Kanton eine
gemeinsame Expertengruppe gegründet, die die
Bedingungen dieser Aufarbeitung bestimmen sollte.
Der Kanton hatte zusammen mit der Expertengruppe
darauf hingewirkt, die umfassenden Archivbestände der
psychiatrischen Kliniken zum fraglichen Zeitraum im
Staatsarchiv Zürich zugänglich zu machen. (S.4)
Im Auftrag des Sozialdepartements begann der
Historiker Thomas Huonker im vergangenen Sommer mit
der Quellenarbeit (die Akten im Stadtarchiv Zürich
waren damals schon zugänglich) und erstelle den
vorliegenden Bericht. Huonkers Studie ist ebenso
gründlich wie sorgfältig verfasst worden. Anhand von
über 1000 Fallgeschichten verschaffte er sich einen
Überblick über das tatsächliche Ausmass und die
Struktur der Zwangsmassnahmen im Sozialbereich und in
der Psychiatrie. Ausgehend von verschiedenen
Einzelschicksalen schildert Huonker eine Welt, in der
die Rechte und die Handlungsmöglichkeiten aus heutiger
Sicht völlig ungerecht verteilt waren. Da Thomas
Huonker seine Ergebnisse in die sich verändernden
Gesellschaftlichen Hintergründe eingebettet hat, wird
auch deutlich, wie diese Zwangsmassnahmen von den
Handelnden gerechtfertigt wurden.
Heute mag es erstaunen, wie viele Ärzte und
Fürsorgebeamte sich durchaus im Klaren waren über den
Charakter und die Auswirkungen ihrer Massnahmen. Sie
zeigten sogar Verständnis und Mitleid für die
Notsituation der zu behandelnden Menschen. Dennoch
schreckten sie nicht vor der Anwendung von Eingriffen
zurück, die den Körper schädigten und die
Lebensperspektiven der Opfer unwiederbringlich
beschränkten.
Der Bericht berührt, seine Ergebnisse sind
erschütternd. Aus heutiger Sicht ist klar: Viele
dieser Zwangshandlungen sind nicht vertretbar. Sie
haben bei den Betroffenen unsägliches, oft
jahrzehntelanges Leiden verursacht. Die meisten Opfer
dieser Zwangsmassnahmen sind verstorben, ohne dass sie
je verstanden worden wären, ohne dass sie ihre Würde
wieder zurückbekommen haben. Sie werden keine auch
noch so symbolische Form der Entschädigung mehr in
Empfang nehmen können.
Als Vorsteherin des Sozialdepartements erachte ich es
als meine Pflicht, nicht nur das Wissen um die
Hintergründe und die Mechanismen dieser Art von
Zwangsmassnahmen zu vertiefen, sondern auch
Verantwortlichkeiten zu benennen und zuzuordnen. Die
Art der Auseinandersetzung mit einem Stück dunkler
Vergangenheit soll ein Versuch sein, den Opfern einen
Teil ihrer persönlichen Würde zurückzugeben. Zudem
soll dieser Bericht Anstoss bieten für ein vertieftes
Nachdenken.
Fürsorge ist nie ganz frei von Zwang. Auch heute
nicht. Die Frage, wie weit der Staat in schwierigen
Lebenssituationen in die Privatsphäre von Menschen
eingreifen darf, bleibt aktuell. Sie kann nie
abschliessend geklärt werden. Es gehört aber auch zur
politischen Verantwortung, sich dieser Frage immer
wieder öffentlich zu stellen.
Die Frage, wo staatlicher Zwang vorbeugend und
sinnvoll ist, wo rechtsverletzend und ungerecht, ist
oft heikler, als man von aussen erkennen kann.
Antworten auf diese Art von Fragen sind immer
zeitgebunden - auch die unseren, die heutigen. Wie
aber Zwang ausgeübt wird, ist ein Gradmesser für die
Liberalität eines Staates; in der Fürsorge bleibt die
Frage immer heikel, wann ein Mensch nicht mehr in der
Lage ist, selbst verantwortliche Entscheidungen zu
fällen. Die Balance zu finden zwischen
Eigenverantwortung und Vormundschaft, ist auch heute
nicht einfach. Ob es sich um Fürsorge,
Freiheitsbeschränkung oder gar Freiheitsentzug handelt
- die Extreme sind
(S.5)
im Gesetz geregelt, es sind jedoch der Alltag und das
alltägliche Handeln der professionellen Helferinnen
und Helfer, die die Realität prägen.
Als Präsidentin der Vormundschafts- und der
Fürsorgebehörde der grössten schweizer Stadt bin
ich glücklich, mich in den Behörden von Menschen
gestützt zu wissen, die es sich nicht einfach machen,
die ihre Entscheide in Erwägung aller fachlichen und
therapeutischen Erkenntnisse fällen, die ihre
Eingriffe mit hohem ethischen Bewusstsein verantworten
und sich nur einem verpflichtet fühlen: dem Wohl des
Einzelnen und dem Wohl des Gemeinwesens.
Dieser Bericht zeigt jedoch, dass es trotzdem ein
ständiges Hinterfragen der eigenen Rolle braucht.
Deshalb ist es mir selbstverständlich, den
vorliegenden Bericht über ein aus heutiger Sicht als
skandalös zu wertendes Kapitel der Geschichte der
Eingriffsfürsorge zu veröffentlichen. Ich tue dies
ohne Vorwürfe und ohne Überheblichkeit, aber mit
Ernst. Ich möchte alle, also Fachleute, Behörden,
Verantwortungsträgerinnen und -träger und engagierte
Menschen, zum Nachdenken und Überdenken einladen.
Ich persönlich entschuldige mich bei den Opfern der
Vergangenheit, bei ihren Kindern und Kindeskindern für
das Unrecht, das ihnen angetan wurde. Mein Wort steht:
Ich werde alles daran setzen, dass in späteren
Generationen auf die heutige Arbeit mit Dankbarkeit
und der Erkenntnis zurückgeblickt werden kann, dass es
keine Täter und keine Opfer geben soll, sondern nur
Handelnde, die ihre Verantwortung so gut, so gerecht
und vor allem so menschlich wie möglich wahrnehmen.
Monika Stocker
Zürich, im Februar 2002
(S.6)
Vorbermerkung des Autors
Als Bürger von Zürich, Träger eines politischen
Mandats (Zürcher Kantonsrat von 1990-1998), Sohn eines
städtischen Mandatsträgers (mein Vater war Gemeinderat
von 1970-1990) und Enkel eines städtischen Weibels
(von 1910-1948) vermittelten mir viele Funde, die ich
im Lauf dieser Arbeit machte, eine neue Befindlichkeit
gegenüber meiner Heimatstadt. Ich wurde konfrontiert
mit hiesigen Zeugnissen krasser Armut, individueller
Tragik, harten Durchgreifens und des Pochens auf
Argumente, die heute keine Billigung mehr finden, aber
auch damals schon auf Kritik stiessen. Wenn ich mir
vorstelle, dass einige der in diesem Bericht erwähnten
oder von mir im Lauf der Forschungsarbeiten
eingesehenen Aktenstücke auch in der Botenmappe meines
Grossvaters an ihre Bestimmungsorte befördert wurden,
bin ich um so dankbarer für das Wirken jener Menschen,
welche den Paradigmenwechsel im Sozialstaat
zustandebrachten, der am Ende der Untersuchungsperiode
auch in Zürich einsetzte:
-- weg von Kontrollapparaten und Zwangsmassnahmen
gegen "Abnormale", hin zum Respektieren und
Akzeptieren abweichenden Verhaltens, das zu allen
Gesellschaftsformen und deren geschichtlicher
Entwicklung gehört
-- solidarisch getragene Versicherung der Risiken von
Unfall, Krankheit, Alter und Tod statt unsolidarische
Auslieferung des armen Teils der Bevölkerung an diese
Wechselfälle des Schicksals.
Der Bericht ist wie folgt aufgebaut:
[Rassistische
Strukturen in städtischen Institutionen von Zürich
1890-1970 - Zürich war Rassismuszentrum]
Kapitel 1 und 2 geben im Längsschnitt eine Skizze der
Institutionsgeschichte des Fürsorgewesens der Stadt
Zürich. Dies unter einer ersten Fokussierung auf die
Zwangsmassnahmen Kindswegnahme und Anstaltseinweisung.
Es zeigt sich schon dabei, was bei Massnahmen wie der
Unterbrechung behördlicherseits unerwünschter
Schwangerschaften oder auf behördlichen Druck hin
erzwungenen Sterilisationen und Kastrationen noch
deutlicher wird: Zürcher Fürsorgebeamte übernahmen die
theoretischen Vorgaben von "rassenhygienisch" und
"eugenisch" argumentierenden Wissenschaftern,
insbesondere von Medizinern und Psychiatern, mit denen
sie zusammenarbeiteten. Mehrfach lieferten aber
Zürcher Stadträte und Fürsorgebeamte selber prägnante
Beiträge in Büchern, Broschüren, Zeitschriften und
Konferenzen zum "eugenischen" Diskurs in der Schweiz,
die ihrerseits Auswirkungen über Zürich hinaus hatten.
Kapitel 3 beleuchtet deshalb das nationale und
internationale Umfeld von "Eugenik" und
"Rassenhygiene" mit seinen für den
Untersuchungszeitraum (1890 bis 1970) spezifischen
medizinischen und psychiatrischen Diskursen im
Querschnitt und über Zürich hinaus. Zürich erweist
sich dabei insbesondere in den Jahren zwischen 1890
und
(S.7)
1934, dem Jahr eines internationalen Kongresses von
"Rassenhygienikern" in Zürich, als Knotenpunkt der
"Eugenik" von internationaler Ausstrahlung.
[Rassistische und
"psychiatrische" Zwangsmassnahmen des Zürcher
Sozialwesens gegen Arme 1890-1970]
Kapitel 4 schildert jene Zwangsmassnahmen von Zürcher
Fürsorge-Institutionen, die im Unterschied zu
Kindswegnahmen und Anstaltseinweisungen in jedem Fall
unter ärztlicher Mitarbeit vollzogen wurden:
-- Einweisungen in psychiatrische und andere Kliniken;
-- die dortige Behandlung, soweit sie zwangsweise
erfolgte;
-- Eheverbote, die mit ärztlicher Begutachtung
verbunden waren;
-- Sterilisationen, Schwangerschaftsabbrüche und
Kastrationen mit Zwangscharakter.
Kapitel 5 und 6 befassen sich mit experimentellen
Therapien der zeitgenössischen Psychiatrie, wie sie
auch an Zürcher Mündeln durchgeführt wurden.
Das Schlusskapitel 7 behandelt die zeitgenössische
Kritik an Zwangsmassnahmen sowie den allmählichen
Abbau der Zwangspraktiken und skizziert prinzipielle
Erwägungen zu gesellschaftlichem Zwang und dessen
zeitgenössischer und nachträglicher Einschätzung.
Der Hauptteil der in dieser Arbeit berücksichtigten
Druckschriften und Akten ist von Politikern,
Fürsorgern, anderen Beamten und Ärzten verfasst, die
somit in den Zitaten in erster Linie zu Wort kommen.
Die Kasuistik von aktenmässig und in Selbstzeugnissen
dargestellten Auszügen aus Lebensgeschichten und
Mündeln, Befürsorgten und Anstaltsinsassen ergänzt und
konkretisiert die Darstellung.
Ausführungen über Forschungslage, Methodik und
Quellen, eine Zusammenfassung des Berichts sowie der
wissenschaftliche Apparat mit Anmerkungen und
Literaturverzeichnis finden sich am Schluss des
Berichts.
(S.8)
[[Die Justiz und die Schlägerpolizei von Zürich haben
immer mit der kriminellen Psychiatrie kollaboriert,
die betroffenen Menschen verurteilt, die betroffenen
Menschen in die Internierung oder Sterilisierung
abgeführt und dabei noch guten Lohn verdient. Das
System funktioniert z.T. heute noch genau wie damals,
z.B. bei Kindswegnahmen, Kriminalisierung von
Demostranten etc. Dabei werden heute oft auch
Schlägerpolizisten von anderen Kantonen an die
Einsatzorte transportiert, bei gutem Lohn für die
schweizer Schlägerpolizisten. Es gibt bis heute keine
Wiedergutmachung von der Justiz oder von der
Schlägerpolizei, und sie schlagen weiter...]]
Quellen
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 1
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 2
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 3
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 4
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 5
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 6
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 7
|
Thomas Huonker: "Fürsorge" in Zürich 1890 bis
1970; Sozialdepartement der Stadt Zürich 2002,
S. 8 |
|